„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ – Die Jahreslosung 2023 gehört zu einer der Geschichten, die die hebräische Bibel von den
Vorfahren Israels erzählt. Hagar ist aus Verzweiflung in die Wüste geflohen. Sie ist Magd bei Sarai und Abram. Beide sind alt und immer noch kinderlos. Dabei hatte ein Engel Abram verkündet, dass er Nachkommen so zahlreich wie die Sandkörner in der Wüste bekommen werde. Aber Sarai wurde nicht schwanger. Nach damaliger Sitte holte Abram statt seiner Frau deren Magd zu sich ins Zelt. Und tatsächlich: Hagar wird schwanger. Doch nun behandelt Sarai sie erst recht hart und ungerecht. Als
Hagar es nicht mehr aushält, läuft sie wie von Sinnen in die Wüste – in den sicheren Tod. Doch als sie an einer ausgetrockneten Quelle zusammenbricht, hört sie plötzlich Gottes Stimme. Er befiehlt ihr aufzustehen. Plötzlich sprudelt aus der Quelle wieder Wasser und rettet Hagar das Leben. Hagar nennt die Quelle „El Ro`i“ – „Gott sieht“. Ihren Sohn wird sie Ismael nennen: „Gott hört“.
Das Leben schreibt viele Geschichten. Von Glück und Liebe, von Trauer und Verzweiflung. Dies ist die Geschichte einer einfachen Frau. Wahrscheinlich wäre sie vergessen worden, wenn Hagar nicht mit Sarai und Abram zu den Vorfahren der Stämme in Palästina gezählt worden wäre. Ihr Leben bekam seine Bedeutung aus der Rückschau. Die meisten Geschichten einfacher Menschen bleiben unerzählt. Denn einfache Menschen schreiben selten Weltgeschichte. Menschen, die im Sudan oder in Niger oder Mali am Rande der Wüste leben und deren Lebensraum immer dürrer und lebensfeindlicher wird. Deren Quellen versiegen und nicht wieder zum Leben erwachen. Menschen, die in Kellern hausen vor Bomben, ohne Strom und ohne Wasser. Menschen, die von Minen zerfetzt werden, die auf Kriegsschauplätzen zurückgelassen werden.
Unerzählte Geschichten einfacher Menschen, sie schreien zum Himmel. Sieht Gott das Leid der Menschen nicht? Hört er nicht ihr Schreien?
Darauf gibt es keine einfache Antwort. Der Glaube sagt Ja. Der Zweifel kann trotzdem bleiben. Menschen werden auch heute gerettet. Menschen berichten, dass ihr Gebet erhört wurde. Aber die Erfahrung Hagars in der Wüste bleibt ein Geheimnis. Es sind die Augen des Glaubens, die das Leben deuten. Die Stimme, die Hagar in der Wüste gehört hat, hat sie in ihrem Herzen gehört. „Du bist ein Gott, der mich sieht“ – das Leben wird vorwärts gelebt, aber rückwärts verstanden. Es kommt vor, dass ein Erlebnis viele Jahre später in einem anderen Licht erscheint: Gott hat mich damals
gesehen, aber ich wusste es nicht.
Zu Beginn eines neuen Jahres fällt auf diesen Bibelvers ein besonderes Licht. Das vergangene Jahr ist gegenwärtig. Es brachte einen Krieg in Europa. Es war voller Hoffnung auf das Ende der Pandemie. Schon 2020 und 2021 haben wir erlebt, wie ein Jahr die Welt verändern kann. Das muss uns keine Angst vor dem neuen Jahr machen. Aber es macht aufmerksam für das, was werden will. Es werden neue Geschichten geschrieben werden, Geschichten von Trauer und Leid, aber ebenso Geschichten von
Hoffnung und Liebe. Wir wandern durch Wüsten- und Oasenzeiten. Gott wandert mit.
Dieser Wunsch für uns alle steht am Ende, dass wir sagen können: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“
Dr. Horst Gorski, Leiter des Amtsbereichs der VELKD und Vizepräsident im Kirchenamt der EKD, zur Jahreslosung 2023.